Cover
Titel
Fragile Familien. Ehe und häusliche Lebenswelt in der bürgerlichen Moderne


Autor(en)
Eibach, Joachim
Erschienen
Berlin 2022: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Jon Mathieu, Historisches Seminar, Universität Luzern

„Die Geschichte der Familie gleicht einer Wundertüte. Denn die Vielfalt der Themen in der internationalen Forschung scheint unerschöpflich. Was ist also noch von einem neuen Buch zur Geschichte der Familie zu erwarten? Anliegen dieser Monografie ist es, die Geschichte von Haus und Familie in der Ära der bürgerlichen Moderne anhand signifikanter Fallbeispiele aus verschiedenen Milieus zu rekonstruieren. Dabei gilt es zugleich der kulturellen Hegemonie des Bürgertums ab Ende des 18. Jahrhunderts Rechnung zu tragen wie aber auch den Fokus dezidiert auf andere, bislang wenig beachtete Kontexte auszuweiten.“ (S. 12)

So bringt Joachim Eibach die Fragestellung seines gehaltvollen und gut lesbaren, ja unterhaltsamen Buchs auf den Punkt. Mit mikrohistorischem Blick untersucht er in je einem Kapitel acht Fallbeispiele, lokalisiert an verschiedenen Orten des deutschsprachigen Raums, chronologisch aneinandergereiht von etwa 1750 bis 1900. Den Auftakt machen der „arme Mann aus dem Toggenburg“ Ulrich Bräker und seine Salome Ambühl, eine legendäre Beziehungsgeschichte, die hier in neuem Licht erscheint. Dann geht es zu einer pietistischen Frau aus dem Berner Patriziat, zu einem bürgerlichen Ehepaar mit „offener Häuslichkeit“ in Hamburg, zu einem „labyrinthischen“ Basler Pfarrhaus, usw. Den Schluss machen Paula Becker und Otto Modersohn, ein bekanntes Malerehepaar in der Künstlerkolonie Worpswede, einem Dorf vor den Toren Bremens. Gerahmt sind die Fallgeschichten von einem Kapitel zu Forschung und Quellen sowie von einem Fazit mit der Frage: „Verfall oder Resilienz der Familie?“

Das Buch stützt sich auf Selbstzeugnisse, vor allem Tagebücher, teilweise auch Briefe und Autobiografien. Der Autor hat viel zu sagen über diese ergiebige und komplexe Quellengattung: „Der Reiz von Tagebüchern für eine Geschichte der Familie besteht gerade darin, dass sich der Inhalt nicht völlig aus Kontexten und Schreibkonventionen erschliesst. Vielmehr gibt es bei der Lektüre immer wieder Zufallsfunde und Überraschungseffekte, und gerade das nebensächlich Bemerkte kann wichtig sein. Denn manchmal überlisten die Optionen, die das Medium Tagebuch bietet, die eigentliche Intention der Autorin.“ (S. 18).

Eine erstaunliche Quelle ist etwa das von 1771 bis 1789 geführte Journal de mes actions von Henriette Stettler-Herport, einer Patrizierin, die zuerst mit ihrem Mann auf einer Berner Landvogtei residierte und nachher ihren Wohnsitz in der Hauptstadt bezog. Es handelt sich um ein pietistisches Seelenprotokoll. Durch regelmässiges Registrieren ihrer Verfehlungen legte Henriette Stettler-Herport eine fortlaufende Beichte vor Gott ab und wollte so zur Spiritualisierung des Alltags und zur religiösen Perfektionierung ihrer Persönlichkeit gelangen. Sowohl der Alltag wie die Persönlichkeit waren in der Regel korrekturbedürftig. Mit der Zeit begann sie, ihre Verfehlungen mit Listen zu quantifizieren: die „Verstösse“ direkt gegen Gott, gegen den Ehemann, gegenüber der Mutter, hinsichtlich der Kinder; dann auch Wut, Zorn, Zank, Gezeter; Übellaunigkeit und Verdruss usw. Alles und jedes wurde mit Tagesstrichen registriert und in der jeweiligen Grössenordnung sichtbar gemacht (S. 39–48).

Mein Favorit ist aber das Tagebuch von Ferdinand Beneke. Täglich hielt der Hamburger minutiös seine Beobachtungen und Überlegungen fest, während mehr als fünf Jahrzehnten. Gegenwärtig sind diese enorm umfangreichen Tagebücher bis 1816 ediert. Hier ging es nicht um eine Beichte des sündigen Menschen vor Gott, sondern um Selbstvergewisserung. Beneke strebte nach Orientierung über sich und seine Umwelt. Daraus resultierten manchmal so detaillierte Schilderungen, dass man ein Drehbuch daraus schreiben könnte. Filmreif sind die Szenen, in denen der aufstrebende dreissigjährige Anwalt die sechzehnjährige Caroline von Axen zur Ehefrau gewann – nach etlichem Hin und Her. Dabei zeigt sich, wie bedeutend die Rolle der Brauteltern und besonders der Brautmutter bei der Eheanbahnung war. Grundsätzlich erwarteteten sie vom Schwiegersohn in spe, dass er ihre Tochter und die künftigen Kinder standesgemäss ernähren konnte. Die Annäherung der beiden Verliebten erfolgte „enorm körperlos“, wie Eibach konstatiert. Die wesentlich jüngere Frau trat dabei durchaus selbstbewusst auf. So notierte Beneke kurz vor der Verlobung: „‚Ich reichte ihr beym Weggehen die Hand. Neckend hielt ich sie eine Weile.‘ Sie: ‚Was soll das?‘ Er: ‚Drücken Sie mir doch die Hand einmal, Karoline!‘ Sie: ‚Nimmermehr‘. Er: ‚Wie? ihrem Freunde kein HändeDruck?‘ Sie: ‚Wenn einmal ihr GeburtsTag ist.‘“ (S. 88)

Das Buch ist also sehr lebensnah. Aber gleichzeitig ist es mindestens in zweifacher Hinsicht auch anspruchsvoll und ambitioniert. Erstens führt uns die Nahperspektive, die Eibach wählt, eine häusliche Lebenswelt vor Augen, die bedeutend vielfältiger, offener, dynamischer und krisenanfälliger ist, als man sie von der gelobten Familie in der bürgerlichen Blütezeit erwartet. Es ist der Unterschied zwischen Praxis und Repräsentation, der bei diesem Thema besonders gross ist, und einen Teil der Familienforschung zu einseitigen Festlegungen verführt, etwa bei Genderfragen oder bei Fragen von Privat und Öffentlich. Mit seinen Alltagsquellen kann Eibach plausibel eine Fussballweisheit zitieren: „Grau ist die Theorie, aber was passierte auf dem Platz?“ (S. 19).

Zweitens sind die acht Mikrostudien chronologisch angeordnet und fordern damit zu einer generalisierenden Lektüre auf. Letztlich geht es um die Geschichte der Familie in der Moderne. Das mag vermessen scheinen. Auch wenn Eibach bestimmten Auswahlkriterien folgt (deutschsprachiger Raum, Blick über das Bürgertum hinaus, dichte Quellenlage), können die Fallbeispiele nicht anders als höchst zufällig sein. Hier kommt jedoch der Umstand ins Spiel, dass es wenige Historiker gibt, die für eine solche Aufgabe so gut positioniert sind wie Eibach. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit dem Thema und hat mit Einzelarbeiten und von ihm geleiteten Kollektivunternehmen die Forschung stark angeregt. Wenn er die Mikrostudien historisch einordnet und nach Indizien von Kontinuität oder Wandel abfragt, so auf einem reichen Erfahrungshintergrund. Im Ergebnis fügen sich die Puzzleteile für ihn zu einer eigenständigen Epoche der Familiengeschichte, geprägt durch offene Häuslichkeit. „Die hier beschriebenen Familien funktionierten anders als Haushalte in der Frühen Neuzeit, aber auch anders als Familien in der Hochzeit der bürgerlichen Kernfamilie nach 1945 und heute.“ (S. 57)

Redaktion
Veröffentlicht am
20.01.2023
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